Das Konzept der Individualpsychologie
Einführung in die Individualpsychologie: Der Tiefenpsychologe und Arzt Alfred Adler (1870 bis 1937) entwarf im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts – inspiriert durch die Psychoanalyse und in kontroverser Diskussion mit ihrem Begründer Sigmund Freud – die Individualpsychologie.
Adlers sozialpsychologische Theorie zählt heute zu den Beratungswissenschaften; sie ist damit eine Wissenschaft, angesiedelt zwischen Pädagogik und Neurosentherapie, dient der Neurosenprophylaxe und wird als psychohygienische Notwendigkeit eingesetzt.
Wenn ein wesentlicher Schwerpunkt der Supervision die Erhaltung und Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts, die Psychohygiene des Supervisanden, ist, scheint die Individualpsychologie, von ihrem Standort aus Anhaltspunkte für das Interaktionsmodell Supervision bieten zu können. Dieser Hypothese soll in den nachfolgenden Ausführungen nachgegangen werden.
Der Versuch, individualpsychologische Aspekte für den Anwendungsbereich Supervision zu überprüfen und gegebenenfalls nutzbar zu machen, entsprang meinem Wunsch, einem Grundlagenkonzept, das mir in meiner sozialpädagogischen und beraterischen Tätigkeit immer wieder trotz der vielen Unwegsamkeiten, die soziale Arbeit mit sich bringt, zu einer optimistischen Arbeitshaltung und einer Wertschätzung anderer Menschen verholfen hat, auch in meinem supervisorischen Handeln unter Berücksichtigung der Übertragbarkeit und Modifizierung einen adäquaten Platz einzuräumen.
Die vorliegende Arbeit zielt dabei nicht auf die Darstellung einer geschlossenen Supervisionstheorie ab; sie ist als ein Beitrag eines individualpsychologischen Ansatzes in der Supervision gedacht, der zum weiteren Experimentieren einlädt.
Elementarbegriffe wie Lebensstil, Einheit der Person, Zweckgebundenheit des Verhaltens, Minderwertigkeitsgefühl, Streben nach Vollkommenheit, Gemeinschaftsgefühl und Ermutigung werden erklärt, mit der supervisorischen Aufgabe und Zielsetzung in Zusammenhang gebracht, Methoden beispielhaft exploriert. Gezeigt wird, dass die Individualpsychologie trotz vehementer Abgrenzung gegenüber betonter Überzeugungen anderer Theorien ein relativ offenes System ist, mit grundlegenden Annahmen über das Menschen- und Weltbild, über Funktionszusammenhänge psychischer Abläufe, bestimmte Methoden und Prinzipien bevorzugt, und dennoch aufgeschlossen mit anderen Konzepten korrespondiert, sofern sie nicht im Widerspruch zu den eigenen Grundthesen stehen.
Wenn die Frage aufkommen mag, inwieweit eine dermaßen betagte Theorie, der es insbesondere in Europa nicht gelungen ist, über die Pionierzeit hinaus öffentliche Bestätigung oder gar Popularität zu gewinnen, Anstöße für die Entwicklung einer neuen Profession wie es die Supervision ist, geben will, kann ich nur mein Bedauern darüber ausdrücken, dass nach dem Tode Adlers und mit Beginn des Nationalsozialismus eine Ausbreitung und ein Weiterdenken der Individualpsychologie zunächst für einige Jahrzehnte abgerissen war. Erst Mitte der 60er Jahre organisierten sich die Individualpsychologen neu, knüpften an Adlers Gedanken an, setzten Forschungen fort, begannen zu lehren und erste Weiterbildungsinstitute zu gründen. An dem Alfred-Adler-Institut Nord in Delmenhorst habe ich eine fünfjährige Ausbildung in Individualpsychologischer Beratung absolviert. Trotz der verzögerten Forschungsmöglichkeiten boten Adlers Denkansätze – insbesondere seine Erklärungen im Hinblick auf die Beziehungen der Menschen zueinander, aber auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst, in Bezug auf seine Beziehungen zu anderen Menschen – in der Vergangenheit ein Fundament, auf dem viele der neuen Beratungs- und Therapieformen aufgebaut worden sind. Wiedererkennungsreflexe sind also nicht ausgeschlossen.
In meiner Bemühung, Modellansätze für supervisorisches Handeln zu erwerben, auszubauen und darzustellen, dienen auch mir Adlers Ideen als schätzenswerte Arbeitsgrundlage.
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