Das Gemeinschaftsgefühl als allgemeiner Nutzen
Aus den beschriebenen Dimensionen Zugehörigkeitsgefühl, Einfühlung und Kooperation leitet sich das unmittelbare Ziel des Gemeinschaftsgefühls ab: allgemeiner Nutzen und persönlicher Einsatz des Individuums für die Einheit. Adler unterteilt seit seiner Schrift „Neurosen“ (1929, vgl. Seidenfuß, 1985; 164) menschliches Verhalten in „allgemein nützliche“ und „allgemein unnützliche Verhaltensweisen“. Im „allgemein nützlichen“ Verhalten sind die Interessen des Individuums auf die Menschheit im Allgemeinen gerichtet, während „allgemein unnützliches“ Verhalten sich an der persönlichen Überlegenheit des Individuums über die anderen orientiert. Auch wenn diese Kategorisierung oberflächlich den Eindruck erweckt, dass nur uneigennütziges Verhalten zur Weiterentwicklung der Menschheit beiträgt, hat Adler sie in diesem Sinne nicht eingeführt. Menschliches Verhalten aus einem entwickelten Gemeinschaftsgefühl heraus bezieht sich immer auch auf ein gegenseitiges Geben und Nehmen, letzlich „machen wir selbstverständlich das Beste aus uns selbst“ (Adler 1931, zit. in Seidenfuß, ebd.)
An diesem Punkt wird das Gemeinschaftsgefühl auch zu einer kognitiven Funktion. Dem einzelnen Individuum wird eine Zuordnungs- und Entscheidungskompetenz abverlangt: welches Verhalten fällt in die Kategorie „allgemein nützlich und wertvoll“, welches in die Kategorie „allgemein unnützlich und wertlos“. Hilfestellung für diese Kategorisierung bietet Adler richtungsweisend auf ein letztendlich utopisches Ziel: das normative Ideal einer vollkommenen Gesellschaft, „[…] ein Streben nach einer Gesellschaftsform, die für ewig gedacht werden muß, wie sie etwa gedacht werden könnte, wenn die Menschheit das Ziel der Vollkommenheit erreicht hat“ (Adler 1933, zit. in Seidenfuß, ebd.)
Als Annäherung an dieses Ideal ist auch Adlers Anpassungsbegriff zu sehen. Adler versteht Anpassung nicht als einen passiven Akt des Individuums in Form einer unreflektierten Anpassung an das Bestehende und Erlaubte – wie er oft kritisiert wurde -, sondern analog zum Gemeinschaftsgefühl als das Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten einer Problemsituation, welches die Interessen aller daran Beteiligten optimal berücksichtigt. In diesem Sinne wird das Gemeinschaftsgefühl nicht als ein konfliktfreies Hineingehen in vorgefundene Bedingungen gesehen, es beinhaltet immer auch kritische Bezugnahme und Veränderung.
In Anlehnung an Evolutionstheoretiker wie Darwin und Lamarck schreibt Adler 1933 im „SINN DES LEBENS“:
„Ich spreche von aktiver Anpassung und schalte damit die Phantasien aus, die diese Anpassung sei es an die gegenwärtige Situation oder an den Tod allen Lebens geknüpft sehen. Es handelt sich vielmehr um eine Anpassung sub specie aeternitatis, weil nur jene körperliche und seelische Entwicklung ‚richtig‘ ist, die für die äußerste Zukunft als richtig gelten darf“ (Adler, 1973; 164).
Nach diesem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Begriffes Gemeinschaftsgefühl und seine Bedeutung, die er für Adler eingenommen hat, möchte ich einige Gedanken anschließen, mit denen sich Schüler Adlers und heute in der Therapie und Beratung tätige Individualpsychologen auseinandergesetzt haben. Diese Vorgehensweise erscheint mir insbesondere deshalb sinnvoll, da die Vielschichtigkeit des Begriffes immer wieder Ursache für Missverständnisse gewesen ist und die geführten Diskussionen meines Erachtens zur Verdeutlichung beitragen können.
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